Liebe Vereinsmitglieder, Freundinnen und Freunde des Schweizerischen Sozialarchivs
Die eidgenössischen Wahlen 2019 stehen in wenigen Tagen an. Unzählige grosse und kleine Parteien buhlen um die Wählergunst, viele mit klimapolitischen Anliegen, welche die Bevölkerung aktuell bewegen. Wie das nationale Wahlsystem der Schweiz so geworden ist wie es heute ist, zeigt Christian Koller im aktuellen Newsletterartikel und zeichnet den Übergang vom Majorz- zum Proporzsystem anhand des reichhaltigen Quellenbestände des Sozialarchivs nach.
Stefan Länzlinger und Aleksander Lekkas berichten zu einem anderen Thema, welches in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhundert die Massen bewegte - die Drogenproblematik. Einen erschütternden Blick darauf gewährt der umfassende Fotobestand von Gertrud Vogler, der nun erweitert werden konnte - online sind neu über 3'000 Fotos aus dem Zeitraum 1985-1995 zugänglich, die mit der Suchtproblematik, dem Platzspitz oder dem Letten zu tun haben.
Sie finden natürlich auch wieder aktuelle Veranstaltungshinweise und Kooperationen, ausgewählte Buchpräsentationen und Archivübernahmen, sowie die aktuellen Neuerwerbungslisten für die Monate August und September 2019.
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Vassil Vassilev, Leiter Benutzung
Vor 100 Jahren: Der lange Weg zum Proporz
Wie auch immer die kommenden eidgenössischen Wahlen ausgehen werden, die Sitzverschiebungen dürften sich gegenüber denjenigen des Urnengangs vor 100 Jahren bescheiden ausnehmen: Am 26. Oktober 1919 gewannen die Sozialdemokraten nicht weniger als 19 Mandate, die Bauern- und Bürgerparteien gar deren 27, während die Freisinnigen 43 Sitze verloren. Einzig die Katholisch-Konservativen erreichten exakt dieselbe Sitzzahl wie bei der vorangegangenen Wahl. Diese massiven Verschiebungen hingen teilweise mit einer Umgruppierung der Politlandschaft und der Entstehung neuer Parteien zusammen, vor allem aber mit einem Systemwechsel im Wahlverfahren: Der seit der Bundesstaatsgründung von 1848 praktizierte Majorz wurde vom Proporz abgelöst.
Der Weg dahin war lang. Bereits seit dem 19. Jahrhundert hatten Vertreter politischer Minderheiten auf die Verfälschung des Wählerwillens durch das Majorzsystem hingewiesen. Besonders drastisch hatte sich dies bei den Nationalratswahlen vom Oktober 1917 gezeigt: Mit einem Wähleranteil von 40,8 % hatte der Freisinn 103 der 189 Sitze geholt, hingegen kamen die Sozialdemokraten mit einem Wähleranteil von 30,8 % lediglich auf 22 Mandate, noch hinter den Katholisch-Konservativen, die mit einem halb so grossen Wähleranteil von 16,4 % immerhin 41 Sitze ergattern konnten.

Im späten 19. Jahrhundert setzte sich der Schweizerische Wahlreform-Verein für den Proporz ein (SozArch KS 34/72)

Werbebroschüre für die erste Proporzinitiative 1900 (SozArch KS 34/73)
Dem von Majorzbefürwortern gerne ins Feld geführten Argument, dass das Mehrheitswahlrecht zu stabilen politischen Verhältnissen führe, stand und steht also der demokratietheoretische Einwand gegenüber, dass die Mehrheiten durch das Wahlsystem künstlich erzeugt und dadurch der Wählerwille verzerrt, wenn nicht gar verfälscht werde. Dies zeigt sich in den am Majorz festhaltenden angelsächsischen Ländern bis heute. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat bei den britischen Unterhauswahlen nie eine Partei die absolute Stimmenmehrheit erhalten, mit wenigen Ausnahmen resultierte aus dem Majorzsystem aber zumeist eine absolute Sitzmehrheit für eine Partei im Parlament. Damit hatte das Vereinigte Königreich seit 1945 ausser der Koalitionsregierung der Jahre 2010 bis 2015 stets Regierungen, die sich auf eine parlamentarische Mehrheit, aber lediglich zwischen 35 % und 49 % der Wählenden stützten. Dennoch werden diese künstlich hergestellten Parlamentsmehrheiten in der politischen Kultur Grossbritanniens als Mandat zum „Durchregieren“ verstanden. Dies führt zum berüchtigten „stop and go“ zwischen den beiden grossen Parteien, während die weiteren politischen Kräfte krass untervertreten sind. In einem Fall erzeugte das Wahlsystem sogar eine parlamentarische Mehrheit für die zweitstärkste Partei und pervertierte sich der Majorz gleichsam zum „Minorz“: Bei den Unterhauswahlen 1951 steigerte die regierende Labour Party ihren Stimmenanteil um 2,7 % auf 48,8 % und erreichte mit fast 14 Millionen Stimmen die höchste Zahl, die je in einer britischen Wahl auf eine einzelne Partei entfiel, verlor aber trotzdem 20 Mandate, während die Konservativen mit fast einer Viertelmillion Stimmen Rückstand die absolute Mehrheit eroberten und die Regierung übernahmen. In anderen Fällen zeitigte das britische Majorzsystem wenig pluralistisch anmutende Ergebnisse: Im 96-köpfigen Stadtparlament von Manchester beispielsweise eroberte die dort regierende Labour Party 2014 und 2015 sämtliche Mandate, erst seit 2016 sind mit 1 bis 3 Liberaldemokraten wieder vereinzelte Oppositionelle im Manchester City Council vertreten. Als ein weiteres Merkmal des britischen Majorzsystems mit Einerwahlkreisen und nur einem Wahlgang erhalten jeweils etwa zwei Drittel der abgegebenen Stimmen (diejenigen der zweitplatzierten und folgenden Kandidaturen) keine parlamentarische Vertretung.

Flugblatt für die Doppelinitiativen von 1900 (SozArch 32/102-Z)
Auch in den USA produziert das Majorzsystem immer wieder demokratietheoretisch problematische Resultate. Bei den Parlamentswahlen 1996 und 2012 etwa erhielten die Demokraten die meisten Stimmen, die Mehrheit im Repräsentantenhaus ging aber an die Republikaner. Auch bei den zentralen Präsidentschaftswahlen spielt das Majorzsystem eine wichtige, manchmal den Wählerwillen offen verfälschende Rolle: Im indirekten Wahlprozess werden die Elektoren in den meisten Bundesstaaten nach dem Majorzsystem ermittelt, was in den Wahlkampagnen zu einer Konzentration auf die „swing states“ mit knappen Mehrheitsverhältnissen führt und mehrfach künstliche Mehrheiten erzeugt hat. Bei den 18 Präsidentschaftswahlen seit dem Zweiten Weltkrieg erhielt stets einer der Kandidaten die absolute Mehrheit der Elektoren, die jedoch nur in 11 Fällen auf einer absoluten Mehrheit der Wählerstimmen basierte. In fünf Wahlen reichte eine relative Mehrheit von 43 bis 49 % zum Wahlsieg, in zwei Wahlen kürten die Elektoren sogar Kandidaten zu Präsidenten, die in der Volkswahl verloren hatten: 2000 lag George W. Bush 0,5 % bzw. 543'000 Stimmen, 2016 Donald Trump sogar 2,1 % bzw. 2,9 Millionen Stimmen zurück, aber beiden bescherte das Majorzsystem eine Mehrheit im entscheidenden Elektorengremium.
Der Verzerrung des Wählerwillens durch das Majorzsystem kann durch die Einteilung der Wahlkreise noch zusätzlich nachgeholfen werden. Ein seit dem frühen 19. Jahrhundert bekanntes und in Grossbritannien sowie insbesondere den USA bis heute gebräuchliches Mittel ist es, Hochburgen der Opposition in möglichst wenigen Wahlkreisen zusammenzufassen und eine Vielzahl von Wahlkreisen zu konstruieren, in denen die eigene Partei vorne liegt. Im deutschen Sprachraum war dafür zu Majorzzeiten der Begriff „Wahlkreisgeometrie“ üblich, im angelsächsischen Raum hat sich die Bezeichnung „Gerrymandering“ eingebürgert. Er geht zurück auf das Jahr 1812, als der Gouverneur von Massachusetts, Elbridge Gerry, die Wahlkreise in seinem Bundesstaat ganz nach den Bedürfnissen seiner Partei zuschnitt und dabei absurd anmutende Territorien schuf, eines in Gestalt eines Salamanders, das in einer Karikatur als „Gerrymander“ verspottet wurde. Die Grösse der einzelnen Wahlkreise sowie die Zahl der Wähler, auf die ein Abgeordneter entfällt, lassen sich ebenfalls durch allerlei Tricks beeinflussen. Hinzu kann die Privilegierung strategisch wichtiger Wahlkreise mit steuerfinanzierten Investitionsprojekten kommen, eine Form legalen Stimmenkaufs, die etwa die gegenwärtige britische Regierung offen praktiziert.
Auch in der Schweiz war in der Periode der Majorzwahlen Wahlkreisgeometrie gang und gäbe. Bei den ersten Nationalratswahlen von 1848 existierte noch kein Bundeswahlgesetz und die Festlegung der Wahlkreise war weitgehend den Kantonen überlassen. Die Sieger des Sonderbundskrieges versuchten mit verschiedenen Methoden, die Wahl konservativer Kandidaten möglichst zu verhindern. In den katholischen Kantonen Luzern und Fribourg gab es Wahlkreisversammlungen nur an wenigen, den konservativen Wählern möglichst schlecht zugänglichen Orten, wo unter Leitung von Regierungsvertretern die Stimmabgabe offen stattfand. Unter diesen Bedingungen nahmen als besonders krasses Beispiel im ersten Fribourger Wahlkreis, wo bei der Stimmabgabe zusätzlich ein Eid auf die neue liberale Kantonsverfassung abgelegt werden musste, nur etwa 3 % der Wahlberechtigten am Urnengang teil und gaben ihre Stimmen zu 100 % dem freisinnigen Kandidaten. In anderen Kantonen gab es, je nach den Bedürfnissen der Sieger des Sonderbundskrieges, nur einen einzigen Wahlkreis (Aargau, Tessin), mehrere Wahlkreise mit je einem Sitz (Schwyz, Thurgau, Wallis) oder Wahlkreise unterschiedlicher Grösse. In mehreren Wahlkreisen blieb die Wahlbeteiligung unter diesen Prämissen deutlich unter 30 %.
Auf die nächsten Wahlen 1851 hin entstand dann ein Wahlgesetz auf Bundesebene. Die zuständige Kommission unter dem Vorsitz von Alfred Escher und dann vor allem die liberal-freisinnige Parlamentsmehrheit achteten bei der Grenzziehung für die neuen Wahlkreise auf den Vorteil ihrer eigenen Kandidaten und schufen je nachdem Wahlkreise unterschiedlicher Grösse mit einem bis vier Sitzen. Der Übergang von der kantonalen zur Bundeslösung war klar parteipolitisch motiviert. Alfred Escher schrieb dazu im Dezember 1850: „Es wäre doch mehr als guthmütig gewesen, die Bildung der bernischen Wahlkreise, aus denen 23 Nationalräthe hervorgehen sollen, nicht von Bundeswegen festzusetzen, sondern dem konservativen Grossen Rathe von Bern zu überlassen.“ Der freisinnige Nationalrat (und spätere Bundesrat) Jakob Dubs meinte nach Verabschiedung des Wahlgesetzes erleichtert: „Die Einteilung ist nun so, dass nach den schlechtesten Berechnungen 40, nach den zweitschlechtesten 27 Konservative im nächsten Nationalrat erscheinen werden.“ Tatsächlich wurden 1851 23 Konservative gewählt gegenüber 97 Nationalräten der verschiedenen freisinnig-liberalen Richtungen.

Herman Greulich spricht 1910 auf einer Proporzkundgebung in Zürich (SozArch F 5008 Fb-089)
Bereits zu diesem Zeitpunkt gab es Kritik am Majorzsystem. Johann Jakob Treichler, ab 1850 Grossrat im Kanton Zürich und 1852 dann als erster Sozialist in den Nationalrat gewählt, bemängelte 1851 den Ausschluss von Minderheiten durch den Majorz und forderte für die Wahlen zum Grossen Rat, dass Kandidaten, die im ganzen Kanton mindestens 1'000 Stimmen erhielten, auch dann als gewählt zu betrachten seien, wenn sie in keinem Wahlkreis die Mehrheit errangen. Dieser Vorschlag einer Mischung aus Majorz und Proporz wurde abgelehnt, ebenso bei Verfassungsrevisionen 1865 und 1869, als er erneut debattiert wurde (vgl. Sozialarchiv Info 6/2018). Zuvor hatte es bei Verfassungsrevisionen in den Kantonen Genf (1846) und Neuchâtel (1858) Forderungen nach der Einführung des Proporz gegeben und 1864 rief der konservative Philosoph und Theologe Ernest Naville nach blutigen Parteikämpfen im Gefolge einer Majorzwahl in Genf die „Association Réformiste“ ins Leben, die sich der Werbung für den Proporz verschrieb.

Kritik der freisinnigen Proporzgegner an der politischen Allianz unterschiedlicher Minderheitenparteien (SozArch Ar 114.10)
Bereits im späten 18. Jahrhundert waren im Zuge der amerikanischen und französischen Revolutionen erste Proporzideen aufgetaucht und im frühen 19. Jahrhundert wurden die ersten entsprechenden Wahlsysteme entwickelt, die jedoch keine praktische Umsetzung fanden. Einflussreich wurde dann das vom belgischen Mathematiker Victor D’Hondt 1882 entworfene und vom Basler Physiker Eduard Hagenbach-Bischoff weiterentwickelte Verfahren, das bis heute die Grundlage von Proporzwahlverfahren in zahlreichen Ländern bildet. Auf nationaler Ebene wurde es zuerst 1900 in Belgien eingeführt. Bereits zuvor waren in der Schweiz die Kantone Tessin (1891), Genf (1892), Neuchâtel (1894), Zug (1894), Solothurn (1895) und Schwyz (1898) sowie die Stadt Bern (1895) zum Proporz übergegangen. Im Tessin als Vorreiter war der Proporz ein Mittel, um die jahrzehntelangen Parteikämpfe zwischen Radikalliberalen und Katholisch-Konservativen in konstitutionelle Bahnen zu lenken. Seit den 1830er Jahren hatte es immer wieder teilweise blutige Konflikte zwischen den beiden Gruppierungen gegeben. 1855, 1870, 1876, 1889 und 1890 mussten eidgenössische Kommissare zur Beruhigung der politischen Unruhen einschreiten. Wahlgänge waren geprägt von Manipulationsversuchen und Klientelismus und arteten häufig in Schlägereien aus. Die ab 1875 regierenden Konservativen hielten sich für anderthalb Jahrzehnte durch Manipulation der Wählerlisten und Wahlkreisgeometrie an der Macht. Als sie mit einer knappen Stimmenmehrheit erneut eine solide Mehrheit im Grossen Rat erzielten und die Regierung eine Verfassungsinitiative zur Neueinteilung der Wahlkreise auf die lange Bank schob, entluden sich 1890 die Spannungen im „Tessiner Putsch“. Bewaffnete Parteigänger der Radikalliberalen stürmten das Regierungsgebäude in Bellinzona und erschossen ein Regierungsmitglied. Nachdem durch eine Bundesintervention die Ruhe wiederhergestellt war, führte eine Verfassungsrevision die Proporzwahl sowohl des Kantonsparlaments als auch der Regierung ein, womit der bisherige Unruheherd Tessin zu einem Laboratorium für das Verhältniswahlrecht und die Konkordanz wurde.

Werbegedicht für die zweite Proporzinitiative 1910 (SozArch KS 32/102-1)

Propagandamarken für die zweite Proporzinitiative 1910 (SozArch Ar 114.10)
Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs führten dann auch die Kantone Basel-Stadt (1905), Luzern (1909), St. Gallen (1911) und Zürich (1916) für die Wahl ihrer Kantonsparlamente den Proporz ein, ebenso auf Gemeindeebene die Stadt Zürich (1910). Im Kanton Zürich hatte es entsprechende Forderungen seitens von Karl Bürkli, dem Haupt des sozialistischen Flügels der Demokratischen Bewegung, bereits 1868, 1874 und 1889 gegeben. Ausserdem hatten auch 1877 ein Initiativvorschlag, 1883 der Regierungsrat und 1899 eine Motion des Sozialdemokraten Otto Lang das Thema auf die Traktandenliste des Kantonsrats gesetzt. Initiiert durch die Kantonsräte Emil Klöti (SP, später Stadtpräsident von Zürich) und Oskar Wettstein (Demokraten, später Regierungsrat) kam 1911 eine erste Proporzvorlage vors Volk, die von Kantons- und Regierungsrat sowie den Demokraten und der SP befürwortet, aber von den Freisinnigen abgelehnt und vom Volk eher überraschend bachab geschickt wurde. 1913 wurde eine kantonale Proporzinitiative eingereicht, die 1916 in der wirtschaftlich bedrängten Zeit des Ersten Weltkriegs vors Volk kam. Diesmal wurde die Vorlage vom Kantonsrat abgelehnt, aber vom Volk angenommen. Allerdings hatten nur die städtisch geprägten Bezirke Zürich und Winterthur angenommen und die übrigen Kantonsteile überstimmt. Der Wechsel des Wahlsystems brachte das den Kanton Zürich seit den 1860er Jahren beherrschende Zweiparteiensystem aus Demokraten und Freisinnigen zum Einsturz und ermöglichte den Aufstieg von Sozialdemokraten und Bauernpartei zu den stärksten Kräften im Kantonsrat sowie parlamentarische Vertretungen kleinerer Gruppierungen wie der Christlichsozialen und der EVP.
Inzwischen hatte auch der Druck zur Einführung der Proporzwahl des Nationalrats zugenommen. Im späten 19. Jahrhundert wurden in der Bundesversammlung nicht weniger als neun Vorstösse zur Einführung der Proporzwahl debattiert. Der erste kam 1872 vom Luzerner Katholisch-Konservativen Adam Herzog-Weber, der letzte 1898 vom Basler Sozialdemokraten Eugen Wullschleger. Ab 1874 weibelte der „Schweizerische Wahlreform-Verein“ für den Proporz. Im Jahre 1883 warnte der Staatsrechtler und freisinnige Nationalrat Carl Hilty in einem vom Bundesrat in Auftrag gegebenen Gutachten aber, der Proporz würde „Ultramontanen, Sozialisten und Nihilisten zu Sitz und Stimme“ verhelfen. Ein erster Anlauf für eine Proporzinitiative scheiterte 1892 bereits in der Vorphase an der Uneinigkeit der Initianten über das zu fordernde Wahlsystem. 1900 kamen dann zwei von einem heterogenen Oppositionsbündnis aus Sozialdemokraten und Katholisch-Konservativen, aber auch vereinzelten Demokraten, Liberalen und Reformiert-Konservativen lancierte Initiativen zur Abstimmung, die sich gegen die Dominanz des Freisinns in den Bundesbehörden richteten und die Proporzwahl des Nationalrates sowie die Direktwahl des auf neun Mitglieder zu erweiternden Bundesrates durch das Volk forderten. Nach einem leidenschaftlichen Abstimmungskampf wurde die Proporzinitiative mit 59,1 % und die Initiative für die Volkswahl des Bundesrates mit 65 % Neinstimmen abgelehnt. Immerhin 9,5 Stände stimmten dem Proporz aber zu.

Auch Pfarrer Paul Pflüger, der Gründer des Sozialarchivs, war ein Proporzfreund (SozArch 335/233-15)
In der Folgezeit gab es, wie von den Freisinnigen im Abstimmungskampf über die Proporzinitiative versprochen, in einzelnen Wahlkreisen Versuche mit einem „freiwilligen Proporz“, bei dem aufgrund vorangehender Wahlen die stimmenmässigen Parteistärken zu berechnen versucht und den Minderheitenparteien dann einzelne Sitze kampflos abgegeben wurden – allerdings keineswegs überall und nur unter der Bedingung politischen „Wohlverhaltens“. So führte eine stärkere politische und gesellschaftliche Polarisierung bei den Wahlen von 1905 dazu, dass die Sozialdemokraten aufgrund des gegen sie geführten Wahlkampfes der freisinnigen Mehrheitspartei fünf ihrer bisherigen sieben Mandate verloren, obwohl sie ihren Wähleranteil um 2,1 % auf 14,7 % steigerten. Zudem gab es bei der 1902 aufgrund der demographischen Entwicklung notwendig gewordenen Anpassung der Wahlkreise – inzwischen existierten Wahlkreise mit einem bis zu neun Sitzen – erneut „Wahlkreisgeometrie“ zugunsten des Freisinns, die im Kanton Zürich die Sozialdemokraten, in Luzern und Wallis die Katholisch-Konservativen benachteiligte.

Bettelbrief an Bauernpartei-Gründer Rudolf Minger im Vorfeld der Abstimmung zur dritten Proporzinitiative 1918 (SozArch Ar 114.9)
Die Resultate der Nationalratswahlen von 1908 gaben dann den Anstoss für eine neue Proporzinitiative: Mit einem Stimmenanteil von 50,9 % hatten die Freisinnigen 105 der 167 Mandate gewonnen, die Katholisch-Konservativen kamen mit 20,5 % der Stimmen auf 35 Sitze, die Sozialdemokraten mit 17,6 % der Stimmen auf lediglich 7 Mandate, noch hinter den stimmenmässig massiv schwächeren Liberalen (5,9 % Stimmenanteil, 15 Sitze) und nur knapp vor den Demokraten (3,6 % Stimmenanteil, 5 Sitze). Dem neu gegründeten „Aktionskomitee für den Nationalratsproporz“ gehörten Exponenten unterschiedlicher politischer Richtungen an, so die Sozialdemokraten Herman Greulich, Emil Klöti, Paul Pflüger und Robert Grimm, der demokratische Thurgauer Ständerat Adolf Deucher, der katholisch-konservative Walliser Nationalrat Alexander Seiler, der freisinnige Neuenburger Staatsrat Edouard Quartier-la-Tente, Fritz Bopp, Gründer der Zürcher Bauernpartei, und Ulrich Dürrenmatt, Nationalrat der konservativen Bernischen Volkspartei. Treibende Kraft war der sozialdemokratische Winterthurer Nationalrat Fritz Studer, dessen im Schweizerischen Sozialarchiv überlieferter Nachlass umfangreiches Material zur Proporzbewegung enthält. Bundesrat und Parlament lehnten auch diese Initiative ab. Der Bundesrat attestierte in seiner Botschaft dem bestehenden Majorzsystem, es gestatte dem Volk, sich „der Einflüsterungen des Egoismus zu erwehren, um vor allem auf die höheren Interessen des Landes und die Bedürfnisse des nationalen Lebens Bedacht zu nehmen“ und habe „dazu beigetragen, aus den Wahlen jeweilen eine Mehrheit hervorgehen zu lassen, welche ein unentbehrliches Erfordernis des parlamentarischen Lebens und jeder Regierung ist“, und dadurch „Verwirrung und Anarchie“ verhindert. Der freisinnige Kommissionssprecher Oskar Munzinger sprach im Ständerat die Befürchtung aus, „die politische Zerfahrenheit im Lande, die wir durch Einführung des Verhältniswahlsystems veranlassen und eigentlich schaffen werden“, werde „sich im proportional gewählten Parlament klar wiederspiegeln. [...] Das Parlament, der Nationalrat, wird sein eine Versammlung von Minoritätenvertretern der verschiedensten Richtungen, von Repräsentanten zahlreicher Interessenverbände, deren Bestrebungen weit auseinandergehen, sich zum Teil geradezu widersprechen.“ In der Abstimmung im Oktober 1910 lehnten 52,5 % der Stimmenden die zweite Proporzinitiative ab. Gegenüber ihrer Vorgängerin war die Zahl der Befürworter aber um mehr 70'000 gestiegen. Zudem hatte die Initiative mit 12 zustimmenden gegen 10 verwerfende Kantone auch das Ständemehr geschafft.
Das „Aktionskomitee für den Nationalratsproporz“ blieb denn auch bestehen und lancierte bereits 1913 die dritte Proporzinitiative, die nach wenigen Monaten eingereicht werden konnte. In den Beratungen im Frühjahr 1914 lehnten Bundesrat und Parlament auch diesen Vorstoss ab. Die Landesregierung leistete sich dabei die Peinlichkeit, in ihrer Botschaft auf der Grundlage offensichtlich falscher Berechnungen zu behaupten, bei den Nationalratswahlen 1911 hätte unter dem Proporz beinahe dieselbe Sitzverteilung resultiert wie unter dem Majorz. Wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs wurde die Vorlage dann für mehr als vier Jahre auf Eis gelegt und die Volksabstimmung fand erst am 13. Oktober 1918 statt. Das Ergebnis war eine schallende Ohrfeige für Bundesrat und Parlament: Nicht weniger als 66,8 % der Stimmen und 19,5 Stände stimmten der Vorlage zu. Einen Monat später schrieb das Oltener Aktionskomitee in seinem Aufruf zum Landesstreik, das Volk habe „in der denkwürdigen Abstimmung vom 13. Oktober den gegenwärtigen verantwortlichen Behörden des Landes das Vertrauen entzogen“, und forderte als ersten Punkt seines Reformprogramms die „sofortige Neuwahl des Nationalrates auf der Grundlage des Proporzes“.

Plakat für die dritte Proporzinitiative von 1918 (SozArch F Pd-0511)
In der Folge wurden die nächsten Nationalratswahlen, die erst im Oktober 1920 angestanden hätten, um ein Jahr vorgezogen. Nach den jahrzehntelangen Proporzforderungen und der vierjährigen Verschleppung der Abstimmung über die dritte Proporzinitiative ging nun plötzlich alles ganz schnell: Bereits am 26. November 1918, knapp fünf Wochen nach der Abstimmung und weniger als zwei Wochen nach dem Landesstreik, legte der Bundesrat einen Gesetzesentwurf für die Proporzwahl vor, der bereits Mitte Februar 1919 vom Parlament verabschiedet wurde. Als Konzession an die Kritik, beim Proporz würde nur noch die Partei und nicht mehr die Person zählen, eröffnete das neue Wahlgesetz mit den Möglichkeiten des Streichens, Kumulierens und Panaschierens den Wählern Instrumente der Persönlichkeitswahl, wie sie Proporzwahlgesetze anderer Länder kaum kannten. Aus föderalistischen Erwägungen wurden die Kantone nun zu Einheitswahlkreisen, womit auch Stände, denen aufgrund ihrer geringen Bevölkerungszahl kein eigenes Nationalratsmandat zukäme, eine einköpfige Vertretung in der grossen Kammer garantiert blieb. Am 10. August 1919 hiessen 72% der Stimmenden die vorgezogenen Neuwahlen gut und am 26. Oktober 1919 fanden die ersten Nationalratswahlen nach dem Proporzsystem statt. Kurz darauf führten Baselland (1919), Thurgau (1919), Glarus (1920), Wallis (1920), Bern (1921), Fribourg (1921) und Aargau (1921) den Proporz auch für die Wahlen zu ihren Kantonsparlamenten ein. Die Schweiz lag mit dem Systemwechsel in einem internationalen Trend. Noch vor dem Ersten Weltkrieg hatten nach Belgien auch Finnland, Serbien und Schweden den Proporz eingeführt. Nach Kriegsende folgten dann unter anderem Deutschland, Österreich, Frankreich und Italien (alle 1919), während in den angelsächsischen Ländern der Majorz vorherrschend blieb.

Plakat für die Proporzwahl der Solothurner Kantonsregierung von 2005 (SozArch F 5123-Pe-219)
In der Schweiz hatte der Übergang zum Proporz zur Folge, dass im Nationalrat nun statt einer Mehrheits- und mehreren Minderheitsparteien vier mittelgrosse und eine Reihe kleiner Parteien vertreten waren. Dies führte in der polarisierten Atmosphäre der Nachlandesstreikzeit zunächst zu einem engeren Zusammenrücken der bürgerlichen Kräfte. Die Freisinnigen, die bis 1928 mit 27 bis 28 % noch wählerstärkste Partei blieben und dann von der SP überholt wurden, beanspruchten bis in den Zweiten Weltkrieg die Mehrheit der Bundesratssitze, gestanden aber 1919 den Katholisch-Konservativen einen zweiten Sitz und 1929 den Bauern- und Bürgerparteien den erstmaligen Einzug in die Landesregierung zu. Die mittlerweile wählerstärkste SP erhielt erst Ende 1943 angesichts der Kriegssituation erstmals einen Bundesrat und es sollte noch weitere 16 Jahre dauern, bis sich das Konkordanzprinzip mit der „Zauberformel“ dauerhaft etablierte.
Während der Proporz auf Bundesebene kaum noch in Frage gestellt wurde, gingen in einigen Kantonen die Debatten um das richtige Wahlsystem weiter: Die Kantone Waadt (1948) und Schaffhausen (1952) vollzogen den Wechsel vom Majorz zum Proporz erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Kanton Uri zieht sich die Diskussion über die Mischung von Proporz- und Majorzelementen im Wahlsystem bis heute hin. Graubünden, Appenzell-Ausserrhoden (bis auf den Wahlkreis Herisau) und -Innerrhoden sind bislang beim Majorz geblieben. Das Bündner Wahlsystem wurde dabei vor wenigen Wochen in einem Bundesgerichtsentscheid als teilweise verfassungswidrig eingestuft. Zuvor hatte es im Kanton Graubünden seit 1937 nicht weniger als acht Volksabstimmungen über die Einführung des Proporzwahlrechts gegeben. 2003 war eine Abstimmung, aus der eine Mehrheit für den Proporz resultiert war, nach einer Nachzählung annulliert worden; in der Wiederholung siegten dann wieder die Majorzfreunde. Auch in einigen Proporzkantonen gab es in jüngerer Zeit Diskussionen um das Wahlsystem, die auf eine Elimination verdeckter Majorzelemente abzielten. Kanton und Stadt Zürich (2006) sowie die Kantone Aargau (2008), Schaffhausen (2008), Nidwalden (2013), Zug (2013) und Schwyz (2015) haben das traditionelle Proporzsystem nach Hagenbach-Bischoff durch die doppeltproportionale Divisormethode mit Standardrundung (auch als «doppelter Pukelsheim» bezeichnet) ersetzt, die die Privilegierung grosser Parteien in kleinen Wahlkreisen durch ein zweistufiges Zuteilungsverfahren beseitigt. Auf Bundesebene scheint dieses Verfahren, das die Bedeutung der Kantone als Einheitswahlkreise abwerten würde, in absehbarer Zukunft kaum Chancen auf eine Realisierung zu haben.
Auch ziehen sich in einzelnen Kantonen Diskussionen über die Anwendung des Proporzsystems bei Wahlen anderer Gremien als Nationalrat und Kantonsparlament bis in die Gegenwart hin. Der 1979 gegründete Kanton Jura vollzog als erster den Schritt zur Proporzwahl auch der beiden Ständeräte. Dieses System wurde 2010 auch vom Kanton Neuchâtel eingeführt. Im Jahre 2013 beschloss der Kanton Zug, die 1894 eingeführte Proporzwahl der Kantonsregierung abzuschaffen, so dass zur Zeit der Kanton Tessin als einziger seine Regierung nach diesem Verfahren bestimmt, welches auch bei der Wahl der Berner Stadtregierung zu Anwendung gelangt. In anderen Kantonen blieben Vorstösse für die Proporzwahl der Regierung erfolglos.
Christian Koller
Material zum Thema im Sozialarchiv (Auswahl):
Archiv
- Ar 27.70.21 Sozialdemokratische Partei des Kantons Zürich: Kantonale Abstimmungen 1909–1941
- Ar 114.9+10 Nachlass Fritz Studer (1873–1945): Proporz
Sachdokumentation
- KS 32/102 Wahlen & Abstimmungen: Allg.
- KS 34/72 Stimmrecht & Wahlrecht: Schweiz: Allg. & Proporzwahl des Nationalrates
- KS 34/73 Proporzwahl des Nationalrates; Volkswahl des Bundesrates
- KS 34/74 Wahlrecht: Proporzwahl des Nationalrates
- KS 34/75 Wahlrecht: Proporzwahl des Nationalrates
- KS 335/9-30 Greulich, Hermann: Proporz und Klassenkampf: Rede im zürcherischen Kantonsrat am 30.10.1906
- KS 335/233-15 Pflüger, Paul: Der Proporz. Zürich 1911
- ZA 21.4*Di Stimmrecht & Wahlrecht: Diverse Themen
- DS 637 Kantonsrat Zürich, Geschäftsleitung: 100 Jahre Proporz im Kanton Zürich
- DS 638 Padrun, Fabio: 100 Jahre Proporz – Geschichte der Einführung des Verhältniswahlrechts im Kanton ZH
- DS 639 100 Jahre Proporz: Welche Farbe hat deine Stimme?
Bibliothek
- Bürkli, Karl: Meine Proporz-Perle vor dem Zürcher Kantonsrath (15. September 1891): Eine Rede über die Proportional-Vertretung wie die Sozialdemokraten sie wollen. Zürich 1891, Hf 5248:1-3
- Gilg, Peter: Wahlsysteme, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 13. Muttenz 2014. S. 155-158, Gr 10754:13
- Gruner, Erich: Die Wahlen in den Schweizerischen Nationalrat; 1848–1919: Wahlrecht, Wahlsystem, Wahlbeteiligung, Verhalten von Wählern und Parteien, Wahlthemen und Wahlkämpfe. 3 Bde. Bern 1978, 63108
- Klöti, Emil: Die Proportionalwahl in der Schweiz: Geschichte, Darstellung und Kritik. Zürich 1901, 4463
- Klöti, Emil (Hg.): Die Texte der schweizerischen Verhältniswahl-Gesetze. Zürich 1909, Hf 3462
- Kölz, Alfred: Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte, Bd. 2: Ihre Grundlinien in Bund und Kantonen seit 1848. Bern 2004, 126071
- Lutz, Georg und Dirk Strohmann: Wahl- und Abstimmungsrecht in den Kantonen. Bern 1998, 104012
- Natsch, Rudolf: Die Einführung des Proporzwahlrechts für die Wahl des Schweizerischen Nationalrats (1900–1919), in: ders. et al.: Démocratie référendaire en Suisse au 20e siècle. Fribourg 1972. S. 119-182, 49407
- Neidhart, Leonhard: Das frühe Bundesparlament: Der erfolgreiche Weg zur modernen Schweiz. Zürich 2010, 123592
- Nohlen, Dieter: Wahlrecht und Parteiensystem. 4. Korr. Aufl. Opladen 2004, 115621
- Reber, Arthur Fritz: Der Weg zur Zauberformel: Die Bundesratswahlen der Vereinigten Bundesversammlung seit der Wahl des Nationalrates nach dem Verhältniswahlrecht 1919 bis zur Verwirklichung eines „freien Proporzes“ für die parteipolitische Zusammensetzung der Regierung 1959: Schweizer Bundesratswahlen 1919–1959. Bern 1979, 65772
- Schälchlin, Hans Heinrich: Die Auswirkungen des Proportionalwahlverfahrens auf Wählerschaft und Parlament unter besonderer Berücksichtigung der schweizerischen Verhältnisse. Aarau 1946, 14539
- Schweizerisches Aktionscomité für den Nationalratsproporz (Hg.): Stimmen schweizerischer Staatsmänner zur Verhältniswahl: zur Volksabstimmung vom 23. Oktober 1910 über den Nationalratsproporz. o. O. 1919, Hf 5110
- Schweizerisches Aktionskomitee für den Nationalratsproporz (Hg.): Macht oder Recht? Ein offenes Wort an das Schweizervolk. Zürich 1918, Hf 5323
- Studer, Fritz: Erinnerungen an die Kämpfe für die Einführung des proportionalen Wahlverfahrens, in: Rote Revue 23/3 (1943/44). S. 81-89, N 11
Veranstaltungen im Sozialarchiv
Mittwoch, 16. Oktober 2019, 10:30, Schweizerisches Sozialarchiv, Medienraum
Digital Swiss Sports History Portal
Pressekonferenz zur Portallancierung mit Sarah Akanji (Fussballerin/Kantonsrätin), Denise Bielmann (Eiskunstlauf-Weltmeisterin 1981), Michael Jucker (Projektkoordinator, Universität Luzern) und Christian Koller (Projektleiter, Schweizerisches Sozialarchiv)
Donnerstag, 31. Oktober 2019, 19 Uhr, Schweizerisches Sozialarchiv, Medienraum
Schweizer Intellektuelle im Kalten Krieg
Buchpräsentation mit dem Autor Hadrien Buclin (Université de Lausanne), Sibylle Marti (Universität Zürich/Fernuni Hagen) und Matthieu Leimgruber (Universität Zürich)
Donnerstag, 14. November 2019, 18.30 Uhr, Schweizerisches Sozialarchiv, Medienraum
Bleibende Spuren - Mein Weg vom Kosovo in die Schweiz
Buchpräsentation mit der Autorin Basrie Sakiri-Murati
Donnerstag, 21. November 2019, 19 Uhr, Schweizerisches Sozialarchiv, Medienraum
Transnationale Schweiz
Präsentation der Bücher Transnationale Geschichte der Schweiz – Histoire transnationale de la Suisse und Lea Haller: Transithandel. Geld- und Warenströme im globalen Kapitalismus
Podiumsdiskussion mit Barbara Lüthi (Universität zu Köln), Dominik Gross (Alliance Sud), Jakob Tanner (Universität Zürich) und Monika Dommann (Universität Zürich, Moderation)
Veranstaltungen in Kooperation mit dem Sozialarchiv
Erlebte Schweiz: Zündstoff Energie
Kommende Stationen:
Donnerstag, 26. September 2019, 18.30 Uhr, Aarau, Zentrum für Demokratie
Dienstag, 1. Oktober 2019, 20.15 Uhr, St. Gallen, Palace
Mittwoch, 16. Oktober 2019, 20.15 Uhr, Liestal, Landkino
Dienstag, 22. Oktober 2019, 19 Uhr, Affoltern a. A., La Marotte
Sonntag, 3. November 2019, 11 Uhr, Basel, kult.kino


Donnerstag, 24. Oktober 2019, 19.30 Uhr, Kanzlei-Turnhalle, Kanzleistrasse 56, 8004 Zürich
Chronist der sozialen Schweiz: Fotografien von Ernst Koehli, 1933-1953
Buchvernissage mit Raymond Naef, Melinda Nadj Aboni und Hannes Lindenmeyer. Anschliessend Apéro und Barbetrieb
Drogenkonsum in Zürich - mit den Augen von Gertrud Vogler
«Platzspitz» - der Begriff löst visuelle Reminiszenzen unterschiedlichster Art aus. Die einen sehen die grosszügige, gepflegte Anlage hinter dem Landesmuseum in Zürich vor dem inneren Auge, bei anderen dominieren die Schreckensbilder aus der Zeit der offenen Drogenszene. Für viele, zumindest für viele ältere Personen, werden sich beide Bildwelten überlagern und vermischen. Es bleibt ein Staunen, und zwar sowohl darüber, wie es einst hatte soweit kommen können, als auch über den Umstand, dass heute vor Ort vom Schrecken jener Zeit überhaupt nichts mehr zeugt.
Die Jahre zwischen 1986 und 1995 werden ordnungs- und drogenpolitisch allgemein als verheerendes Jahrzehnt wahrgenommen. Der Konsum illegaler Substanzen fand in Zürich (und anderen grossen Schweizer Städten) unter den Augen der Öffentlichkeit und in einem Ausmass statt, der zuerst lähmte und dann zur überstürzten und wenig weitsichtigen Räumungsaktion führte. In Zürich spielten sich der offene Drogenhandel und auch der Konsum zwischen 1986 und 1992 im Platzspitz ab, nach der Räumung im Februar 1992 dann zwischenzeitlich in den umliegenden Quartierstrassen und -höfen und schliesslich auf dem Areal des stillgelegten Bahnhofs Letten. Im Februar 1995 räumte die Polizei auch diesen Ort.
Die Erinnerung an diese Jahre ist wie bei allen intensiven Erlebnissen sinnlich geprägt. Die blauen Lichter in Hauseingängen und Toiletten, die den Süchtigen das Finden der Venen verunmöglichen sollten. Der unerträgliche Gestank nach Exkrementen, Erbrochenem und Blut in dunklen Ecken. Die Bilder der Verelendung jener Menschen, die das Pech hatten, ohne Obdach auf dem Platzspitz, dem Letten oder «auf der Gasse» leben zu müssen. Die Medien sorgten in jener Zeit mit ihrer dichten Berichterstattung dafür, dass krasse Motive Alltagsgut wurden: Der Süchtige, der im vernarbtem Arm nach einer Einstichstelle sucht. Die junge Frau, die sich, notdürftig geschminkt, prostituiert, um sich den nächsten Schuss zu finanzieren. Die Polizei, die einen Kleindealer stellt und ihn nötigt, alle Säcke zu leeren.
Die Motivvarianz der Bilder ist erstaunlich schmal. Gerade deshalb prägten aber Fotos die Wahrnehmung der Öffentlichkeit umso eindeutiger: Auf dem Platzspitz (und später auf dem Letten) manifestierte sich eine grauenerregende Unterwelt, die es so eigentlich gar nicht geben durfte, die aber offenbar doch genug faszinierend war, dass sie in den Printmedien und in der Fernsehberichterstattung permanent visuell wiedergekäut wurde. Dabei darf man nicht vergessen, dass die betroffenen Gebiete damals für Medienschaffende nicht einfach zugänglich waren. FotografInnen und Kameraleuten schlugen Ablehnung, Verweigerung oder Aggression entgegen. Die Arbeit, die sie dort verrichteten, war oft nur gegen Bezahlung oder im Schutz der Polizei möglich. Viele Agenturbilder entstanden deshalb mit dem Teleobjektiv aus sicherer Distanz oder aus der Vogelperspektive. Besonders gut für diese Zoo- oder Safariperspektive eignete sich dafür die Kornhausbrücke, die über den Bahnhof Letten führt.
Kosmos Platzspitz und Lila Bus
Ein wesentlich differenzierteres Bild dieses Jahrzehnts ergibt sich bei der Beschäftigung mit den Aufnahmen der Zürcher Fotografin Gertrud Vogler (1936-2018). Sie hat noch zu Lebzeiten ihr fotografisches Werk – es umfasst rund eine Viertelmillion Negative – dem Sozialarchiv vermacht. Allein aus der Platzspitz- und Letten-Periode sind rund 10'000 Negative vorhanden. Die allermeisten Bilder sind aus eigenem Interesse und abseits journalistischer Verwertbarkeitsüberlegungen entstanden. Zahlreiche Bilder erschienen aber auch im Rahmen der Berichterstattung der WoZ, wo sie als Bildredaktorin angestellt war und die Themen Drogenkonsum und Drogenpolitik mit ihrer Kamera begleitete. Was aber genau hat Vogler auf Film gebannt? Und unterscheidet sich ihr Blick vom fotografischen Mainstream?
Gertrud Voglers Bilder vom Platzspitz zeigen Drogenkonsumierende beim Vorbereiten ihrer Spritzen, PolizistInnen bei Razzien, freiwillige HelferInnen beim Kochen, medizinisches Personal bei der Abgabe von sterilen Injektionsutensilien oder bei der Betreuung von Drogenkonsumierenden, Putzequipen bei der Reinigung der Parkanlage und vieles mehr. Regelmässig machte sie Aufnahmen von den sogenannten Filterlifixern. Die über Monate und Jahre entstandenen Bildserien zeigen die überaus harten Lebensumstände dieser schwächsten Gruppe auf dem Platzspitz und illustrieren zugleich beispielhaft den Leerlauf einer auf Repression ausgerichteten Drogenpolitik. Die Filterlifixer standen oder sassen meist beim Rondell hinter aus Brettern, Kisten und SBB-Gepäckwagen zusammengebauten Tischen. Darauf boten sie den Drogenkonsumierenden saubere Spritzen, Löffel, Ascorbin-Säure, Tupfer, Wasser und Feuerzeug an. Im Gegenzug erhielten sie die Zigarettenfilter, durch die die Süchtigen das unreine Heroin in die Spritzen aufgezogen hatten. 5 bis 15 solcher Filter, die erst ausgekocht werden mussten, ergaben einen Kick. In einem Artikel der WoZ vom 28.4.1989 bezeichnete Gertrud Vogler die Infrastruktur der Filterlifixer als «Selbsthilfe» und «Überlebenshilfe». «Liebevoll und zweckmässig» seien die Filterlitische errichtet worden. An ihnen werde geredet und gestritten, würden Probleme geteilt und Neuigkeiten ausgetauscht. Umso stossender empfand sie die unter Polizeischutz erfolgten Räumungen und Vertreibungen. Zahlreiche Bildserien der Jahre 1989 und 1991 zeigen Angestellte des Gartenbaumamtes und einer Reinigungsfirma, die unter Polizeischutz mit einem Wasserschlauch das Rondell und den davorliegenden Platz abspritzen, während sich die Süchtigen mit ihren Brettern, SBB-Gepäckwagen und weiteren Habseligkeiten davon machen, nur um kurze Zeit später an gleicher Stelle erneut ihre Tische aufzustellen.
Die Behörden rechtfertigten die repressive Drogenpolitik und den mit ihr einhergehenden Sisyphos-Aktionismus mit der vielzitierten «Sogwirkung», die um jeden Preis möglichst minimiert werden sollte. Um die Attraktivität des Platzspitzes für weitere Drogenkonsumierende zu verringern, wurde den Filterlifixern das Leben noch schwerer gemacht. Aber auch Hilfsangebote von Freiwilligen oder die Arbeit von GassenarbeiterInnen litten unter Polizeieinsätzen und Razzien. Für Gertrud Vogler waren solche Massnahmen nichts Anderes als kalte Verwaltungsakte, ähnlich der Errichtung unmenschlicher Notunterkünfte (von ihr als «Notschlafbunker» bezeichnet), die - im Untergrund erstellt - die Segregation von Süchtigen und übriger Bevölkerung förderten, an den Bedürfnissen der Drogenabhängigen aber weitgehend vorbeizielten.

Das Rondell als zentraler Ort am Platzspitz wurde im Rahmen polizeilicher Massnahmen unzählige Male geräumt und gereinigt. Aufnahme vom 16.6.1990. (SozArch F 5107-Na-15-129-014)

Gertrud Vogler war auch nachts am Platzspitz unterwegs. Sie kannte viele der Betroffenen und unterhielt über Jahre bestehende Freundschaften. Aufnahme vom 29.1.1989. (SozArch F 5107-Na-16-028-029)

Filterlitisch mit übersichtlicher Auslegeordnung. Die Filterlifixer stellten das Injektionszubehör zur Verfügung und profitierten im Gegenzug von den Heroin-Restbeständen in den Zigarettenfiltern anderer Süchtiger. Aufnahme vom November 1990. (SozArch F 5107-Na-15-120-015)

Die Kochgruppe war während Jahren wichtiger Teil des zivilgesellschaftlichen Engagements auf dem Platzspitz und an anderen Brennpunkten der Drogenszene. Freiwillige versorgten die Süchtigen mit einer warmen Mahlzeit. Aufnahme vom 3.5.1990. (SozArch F 5107-Na-15-124-008)

In der Notschlafstelle an der Zollstrasse im Zürcher Kreis 5 unterhält sich der Arzt André Seidenberg mit einer Patientin. Aufnahme vom 30.6.1987. (SozArch F 5107-Na-15-036-026)

Der Lila Bus diente als Rückzugs-Angebot für Frauen, die sich prostituierten, um ihre Drogensucht zu finanzieren. Warnhinweis auf dem Telefon: «Aufpassen beim Namennennen und keine Deals übers Telefon». Aufnahme vom Dezember 1991. (SozArch F 5107-Na-15-006-027)

Die Arge Platzspitz demonstriert vor dem Zürcher Rathaus gegen die Drogenpolitik und ihre Exponentin, Stadträtin Emilie Lieberherr. Aufnahme vom Februar 1992. (SozArch F 5107-Na-17-170-004)

Der ZAGJP-Kiosk an der Walchebrücke gleich beim Eingang zum Platzspitz sorgte für ein Stück Normalität. Er versorgte die Kundschaft mit Dingen des alltäglichen Gebrauchs, diente aber auch als Informationszentrum über Krankheiten und Gefahren und als gassennaher Treffpunkt. Aufnahme vom 30.8.1989. (SozArch F 5107-Na-17-116-007)
Gegen dauernde Polizeipräsenz und Repression auf dem Platzspitz setzte sich auch die Zürcher Arbeitsgemeinschaft für Jugendprobleme ZAGJP ein. Der gemeinnützige Verein wurde bereits 1971 gegründet und leistete einen unverzichtbaren Beitrag zur Lösung der drängenden Jugendprobleme. Gertrud Vogler fotografierte über mehrere Jahre die Gassenküche auf der Kronenwiese, die Gassenstation zur schwarzen Krähe an der Hörnlistrasse und die Auffangstation Tiefenbrunnen. Aussen- und Innenansichten der Gebäude wechseln sich ab und gewähren Einblicke in die Lebenswelt der BesucherInnen. Auf dem Platzspitz begleitete sie ab 1985 die ZAGJP-Projektgruppe «Parklüüt». Die «Parklüüt» verrichteten zwischen 1985 und 1990 einfache Gartenarbeiten und putzten im Auftrag des Gartenbaumtes die Parkanlage. Leuten aus der Drogenszene wurde so die Möglichkeit einer niederschwelligen Erwerbsmöglichkeit gegeben. Zudem sollte ein Beitrag zur Sauberkeit geleistet werden, ohne die «gestressten DrogenkonsumentInnen» zusätzlich zu belästigen. Ein weiteres Projekt der ZAGJP war der Kiosk an der Walchebrücke. Die Gründe für die Errichtung eines Kioskes beschrieb die ZAGJP im August 1986 so: Der Platzspitz sei heute «ein Aufenthaltsort von verschiedenen Randgruppen-Szenen». Durch Kontrollen der Polizei werde eine «negative Stimmung» verbreitet, so dass «Gruppierungen, die nicht der Drogenszene angehören, den Park immer mehr meiden». Um zu verhindern, dass die «Gassenszene isoliert und gesellschaftlich abgeschottet» werde, sei es nötig, eine «positive Veränderung gegen die repressive Stimmung zu erwirken». Der freistehende Kiosk beim Parkeingang sollte von «gassenfreundlichen Leuten und Gassenleuten» zusammen betrieben werden. Die Eröffnungsveranstaltung am 6.9.1986 wurde mit Querflöte und Fagott musikalisch begleitet. Die an diesem Anlass porträtierten MitarbeiterInnen strahlen allesamt eine grosse Ungezwungenheit aus und zeugen von einer Vertrautheit mit der Fotografin. Bemerkenswert ist auch der von Gertrud Vogler am Eröffnungstag fotografierte NZZ-Aushang «Zürcher Drogenpolitik - Verbot der Spritzenabgabe», der Bezug nimmt auf das 1985 erlassene Spritzenabgabeverbot und somit auf eines der kontroversesten drogenpolitischen Ereignisse der 1980er Jahre. Zwischen 1986 und 1992 schuf Gertrud Vogler eine Reihe von Bildern des «letzten Kiosks vor der Autobahn», den Mitarbeitenden und den diesen Ort frequentierenden Menschen. Neben Zeitungen, Zeitschriften und dem üblichen Kiosksortiment gehörten Sitzgelegenheiten, Bartische und eine Infovitrine zur Ausstattung. Die Vitrine wurde insbesondere genutzt, um auf die Gefahren von Aids, die Möglichkeit einer kostenlosen Gelbsuchtimpfung und auf weitere nützliche Informationen für Drogenkonsumierende aufmerksam zu machen. Der Kiosk war täglich tagsüber geöffnet und prägte die Situation beim Landesmuseum und Eingang zum Platzspitz auf seine ganz besondere Weise.
Zivilgesellschaftliches Engagement war auch der Auslöser für die Gründung der Arbeitsgemeinschaft Platzspitz. Nachdem die «Arbeitsgemeinschaft Weihnachten 88 am Platzspitz» ein Zelt mit Festbetrieb errichtet hatte, gründete sich Ende Januar 1989 die ARGE Platzspitz. Der heterogen zusammengesetzte Verein umfasste Einzelpersonen verschiedenen Alters, unterschiedlicher sozialer Herkunft und politischer Vorstellungen. «Was uns eint, ist unser Anliegen, für die Drogenabhängigen humanere Bedingungen zu schaffen auf politischer, medizinscher und menschlicher Ebene», heisst es im ersten Jahresbericht von 1989. Der Zweck der Arbeitsgemeinschaft bestand darin, auf dem Platzspitz präsent zu sein, um das «Ghetto» zu durchbrechen und der polizeilichen Repression entgegenzuwirken. Ferner förderte der Verein in der Öffentlichkeit das Verständnis für die Betroffenen und setzte sich für eine Entkriminalisierung der Drogenabhängigen ein. Gertrud Vogler begleitete die Arbeit der freiwilligen HelferInnen. Sie dokumentierte in eindrücklichen Bildern die Zeltaktion, das Aufstellen eines Baugespannes für einen Pavillon und den Transport einer mobilen Baubaracke, die von einer Baufirma mit einem Lastwagen im Auftrag der ARGE Platzspitz in den Park gebracht und bereits zweieinhalb Stunden nach der illegalen Errichtung unter Polizeischutz wieder entfernt wurde. Weitere Bildserien behandeln die Teegruppe und die Kochgruppe, die ab 1989 mit Kochutensilien und später mit einem Holzwagen täglich an die hundert warme Mahlzeiten zubereitete, mit den Süchtigen ins Gespräch zu kommen und sie allenfalls zur Mitarbeit beim Kochen zu motivieren versuchte.
Frauenspezifische und -gerechte Suchtarbeit fand in Zürich mit dem im Seefeld platzierten Lila Bus erstmals 1989 einen Ort. Als Teil der städtischen Kontakt- und Anlaufstellen wandte sich die Pioniereinrichtung an Frauen, die sich ihren Drogenkonsum mit Prostitution finanzierten. In der Folge entstanden durch das beharrliche Engagement zahlreicher Frauen und insbesondere ihrer umfangreichen Vernetzungsarbeit weitere Angebote, auch in anderen Regionen der Schweiz. Im Lila Bus konnten sich die Drogenkonsumentinnen ausruhen, einen Rechtsdienst in Anspruch nehmen oder ärztliche Betreuung erhalten. Es gab die Möglichkeit auf Verpflegung und natürlich auf unterstützende Gespräche mit den Mitarbeiterinnen. Im Innern der Sozialeinrichtung hing ein Ordner, der mit «Schwarze Liste Freier» beschriftet war und vor skrupellosen Freiern warnte. Personal und Benützerinnen erlaubten Gertrud Vogler, den Innenraum dieses intimen und geschützten Ortes zu fotografieren. Gleiches gilt für das Atelier Purpur der ZAGIP. Auch hier dokumentierte sie den Alltag von Frauen, die - um ihre Sucht zu finanzieren - keinen anderen Weg als den Gang in die Prostitution sahen. Im geschützten Raum des Ateliers fanden sie Geborgenheit, aber auch Zeit für einen stressfreien Drogenkonsum, konnten sich künstlerisch betätigen oder ihren Ängsten auf Plakaten Ausdruck verleihen.
Der andere Blick
Gertrud Vogler erfasste durch ihre intensive fotografische Arbeit den Alltag verschiedener Personengruppen. Sie fotografierte herumliegende Spritzenverpackungen, Graffiti, Transparente, Infotafeln, Infozettel, Hausordnungen und ein an die Wand geheftetes Gedicht über die Heroinsucht. Kontinuierlich entstanden Aufnahmen in Notschlafstellen, medizinischen Einrichtungen und an Manifestationen, Veranstaltungen und Demonstrationen gegen die Drogenpolitik. Von grosser Bedeutung sind zudem Bilder, die nach der Schliessung des Platzspitzes entstanden sind. Hierbei standen neben der Situation am Bahnhof Letten vorab der Kreis 5 und seine Bevölkerung im Mittelpunkt ihres Interesses. Und ein besonderes Augenmerk richtete Gertrud Vogler auf Gitterabsperrungen, die während Jahren die visuelle Wahrnehmung der Zürcher Innenstadt prägten.
Der Fotografin gelang es, die Vielschichtigkeit von Drogenpolitik, Drogenkonsum und Drogensucht in unzähligen Nuancen bildlich einzufangen. Dank Empathie mit den Süchtigen, langjährigen persönlichen Bekanntschaften und einem Zugang jenseits jeder Sensationslust erweiterte und diversifizierte sie das landläufige Bild des Drogensüchtigen und nahm Partei, ohne vereinnahmend zu wirken. Als aufmerksame Augenzeugin und Chronistin setzte sie sich für eine humanere Drogenpolitik und vor allem für die Würde der von der Sucht Betroffenen ein. 1990 veröffentlichte Gertrud Vogler zusammen mit Chris Bänziger «Nur saubergekämmt sind wir frei»: Bänziger schrieb aus der Innensicht eines Junkies, Vogler steuerte den Bildteil bei. Das Gemeinschaftswerk wurde zu einem Erfolg, 1991 erschien bereits die dritte Auflage.
Gertrud Vogler hat dem Sozialarchiv keine Auflagen gemacht im Umgang mit ihren Fotos. Einzige Ausnahme: Nie sollte eines ihrer Fotos für Werbezwecke verwendet werden. Im Fall der Platzspitz- und Letten-Aufnahmen haben wir uns bei der Selektion für eine Publikation auf der Datenbank Bild + Ton für folgendes Vorgehen entschieden: Grundsätzlich von einer Veröffentlichung ausgeschlossen bleiben aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes Aufnahmen, bei denen die Abgebildeten eindeutig identifizierbar sind. Wir sind damit bewusst rigider als Gertrud Vogler es beispielsweise bei ihrer Buchpublikation war – sie kannte die Fotografierten und konnte vor einer Veröffentlichung deren Einwilligung einholen. Die anderen Negative haben den üblichen archivischen Bewertungsprozess durchlaufen: Motivwiederholungen, nicht metadatierbare sowie technisch nicht gelungene Fotos wurden nicht in die Datenbank Bild + Ton aufgenommen. Online sind nun über 3'000 Fotos aus dem Zeitraum 1985-1995 zugänglich, die mit der Suchtproblematik, dem Platzspitz oder dem Letten zu tun haben. Es bleibt zu hoffen, dass sie unser Bild jenes Jahrzehnts ergänzen und in visuellem Sinn bereichern.
Stefan Länzlinger / Alexander Lekkas
(Alexander Lekkas wirkte 2017/18 als Mitarbeiter des Sozialarchivs an der Erschliessung der Fotos von Gertrud Vogler mit; er arbeitet als Archivar bei Schneider History AG.)
Neuzugänge in der Abteilung Archiv seit dem 6.5.2019
Bestand |
Stichworte zum Inhalt |
Umfang |
Nachlass Marie Grosshans (1886-1960) |
Unterlagen zur Person und einzelne Schriftwechsel, persönliche Aufzeichnungen von Marie Grosshans zum Heimalltag im Jugendheim Rötelstrasse, zu Mitarbeitenden sowie zu Kindern und Jugendlichen.
Laufzeit: ca. 1909-2013 |
0,1 Lfm |
Vorlass Marina Schmutz |
Akten zum Haus Forchwies (1951-1991) sowie zum Foyer Anny Hug (1954-1980, vormals: Anny-Hug-Heim) bzw. zum Verein der Freunde des Foyer Anny Hug: Gremienprotokolle, Jahresberichte, Drucksachen, Unterlagen zur Geschichte der beiden Organisationen, Korrespondenzen und Organisationsakten (Personalbögen, Anmeldungen, Gesuche etc.)
Laufzeit: 1950-2019 |
0,5 Lfm |
Nachlieferung SP Kanton Zürich (SozArch Ar 27) |
Unterlagen Kantonsratsfraktion: Protokolle Fraktion und Fraktionsvorstand, Protokolle der Fraktionsausschüsse
Laufzeit: 2011-2012 |
0,05 Lfm |
Archiv Schweizerischer Gewerkschaftsbund (SGB): Teil 2 |
Protokolle und Akten der Gremien (Delegiertenversammlung, Kongresse, Präsidium/Präsidialausschuss, Bundeskomitee, Vorstand), Periodika, Dokumentationen, Fotodokumente, Unterlagen von Dritten etc.
Laufzeit: ca. 1880-2015 |
64,0 Lfm |
Arbeiter-Sport- und Kulturkartell Bern-Nord |
Akten des ASKK Bern-Nord in chronologischer Ordnung: Jahresberichte, Protokolle, Korrespondenz, Adresslisten, Drucksachen. Unterlagen zur Stiftung «Mütterferien» sowie zum Unterstützungsfonds
Laufzeit: 1930-2000 |
0,15 Lfm |
Nachlieferung Gruppe Schweiz ohne Armee (SozArch Ar 452) |
Protokolle, Einladungen, Rundschreiben, Kampagnenunterlagen, Flugblätter, Plakate, AV-Medien, Diverses
Laufzeit: ca. 1980-2015 |
3,0 Lfm |
Dokumentation Walter Schmid zu den Zürcher Unruhen von 1968 (Globus-Krawall) |
Akten zum sog. Globus-Prozess und zu weiteren Gerichtsverfahren, Dokumentationen von Walter Schmid (Flugblätter, Zeitungsausschnitte), einzelne Schriftwechsel und Drucksachen
Laufzeit: 1968-1978 |
0,05 Lfm |
Freie Radler Wetzikon, ATB Freie Radfahrer Wetzikon |
Archivsplitter, vorhanden sind: Versammlungs- und Vorstandsprotokolle, Präsenzbücher, Kassabücher, Objekte (Ansteckknöpfe, Anstecknadeln, Medaillen, Stempel, Fahnen
Laufzeit: ca. 1909-1985 |
0,5 Lfm |
|
Länderdossiers Bolivien, Brasilien, Nicaragua, El Salvador, Togo; Bilddokumente
Laufzeit: 1992-2006 |
3,6 Lfm |
Buchempfehlungen der Bibliothek:

Die «frohe Botschaft» des Schweizerischen Frauenvereins (SozArch 396/21-Z1)
Silke Margherita Redolfi: Die verlorenen Töchter. Der Verlust des Schweizer Bürgerrechts bei der Heirat eines Ausländers. Rechtliche Situation und Lebensalltag ausgebürgerter Schweizerinnen bis 1952. Zürich, 2019
(Signatur 141906)
«Eine frohe Botschaft» verkündete an Weihnachten 1952 der Bund Schweizerischer Frauenvereine. Am 1. Januar 1953 trat nämlich das neue Bürgerrechtsgesetz in Kraft, mit dem der rechtliche Missstand – die sogenannte «Heiratsregel» – beseitigt wurde, dass Schweizer Frauen, die einen Ausländer heirateten, ihr Bürgerrecht verloren. Diese während Jahrzehnten gültige Regel diskriminierte betroffene Frauen, indem sie zu einem unsicheren Aufenthaltsstatus in der Schweiz, Berufsverboten oder mangelndem Zugang zu Sozialunterstützung führte.
Die Historikerin und Archivarin Silke Margherita Redolfi zeichnet in ihrer Dissertation die Geschichte dieses skandalösen Umgangs mit ausgebürgerten Schweizerinnen nach und beleuchtet dessen Ursachen. Aufschlussreich ist insbesondere der umfangreiche zweite Teil des Werks, der aus Interviews mit betroffenen Frauen besteht.
Benutzte Quellen im Sozialarchiv:
Ar 29.90.6-8 Schweizerischer Verband für Frauenrechte, Ehe-, Familien- und Bürgerrecht, Bürgerrechtsgesetz

Mary L. Gray, Siddharth Suri: Ghost work. How to stop Silicon Valley from building a new global underclass. Boston, 2019
(Signatur 142266)
Firmen wie Amazon, Google, Microsoft oder Uber arbeiten mit ihnen – den sogenannten «Geisterarbeitern». Damit sind Menschen gemeint, die im Hintergrund für die künstliche Intelligenz arbeiten, die also – etwas salopp ausgedrückt – dafür sorgen, dass das Internet immer gescheiter wird. Damit Suchmaschinen beispielsweise Hasskommentare oder Bilder mit problematischen Inhalten erkennen, müssen zuvor Tausende Daten eingegeben werden – dies (vorerst noch) meist von Menschen. Je mehr Daten sie zur Verfügung haben, desto «trainierter» werden die Maschinen.
Diese «unsichtbaren» Arbeiterinnen und Arbeiter erhalten in der Regel keinen Mindestlohn und keine Versicherungen, sie leisten Überstunden und können oft jederzeit entlassen werden. «Ghost Work» beschreibt diese neuartigen unsicheren Arbeitsverhältnisse. Und es zeigt auch, warum Automatisierung nie perfekt sein wird.

Standbild aus einem Werbefilm der Winterhilfe von 1943 (SozArch F 5061-Fa-011)
Roman Wild: Auf Schritt und Tritt. Der schweizerische Schuhmarkt 1918–1948. Basel, 2019
(Signatur 142163)
Am 1. November 1940 verhängte die damalige Eidgenössische Schuhkontrollstelle eine Verkaufssperre für Schuhe. Ab Herbst hatte sich die Versorgungslage verschlechtert und Schuhgeschäfte waren derart überrannt worden, dass die Ordnungskräfte eingreifen mussten. Nun wurden auch der Kauf und Verkauf von Schuhen hierzulande rationiert. Diese Ereignisse schildert der Historiker Roman Wild in seiner reich bebilderten Dissertation über die Schuhwirtschaft in der Schweiz zwischen 1918 und 1948.
Der Schuhmarkt war gesellschaftlich eingebettet; soziale Begleiterscheinungen und wirtschaftliche Entwicklungen prägten ihn immer wieder massgeblich. Auch die Schuhmode hatte grossen Einfluss auf das Kaufverhalten der Konsumentinnen und Konsumenten. Und in der Werbung wurden Schuhe immer mehr zu einem identitätsstiftenden Merkmal stilisiert – Bally zog 1935 in der Broschüre «Sandalgeschichten von Bally» gar eine Verbindung zwischen der Sandale und biblischen Gestalten wie König David oder König Salomon.
Roman Wild untersucht aber nicht nur die marktspezifischen Herausforderungen der schweizerischen Schuhindustrie. Er zeigt auch auf, wie diese den Alltag aller Bevölkerungsschichten direkt tangierten – und wie sie nicht zuletzt auch die Schuhmode prägten.
Benutzte Quellen im Sozialarchiv:
Susanne Brügger
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